Die Leiterin des Kinderschutzzentrums Wien Dr. Anna Schwitzer im Gespräch über gewalttätige Kinder, Mobbing in der Schule und warum prügelnde Mädchen die Gesellschaft so schwer schockieren.
Werden Kinder immer brutaler, wie es die Medien derzeit glauben lassen?
Dr. Anna Schwitzer: Kinder und Jugendliche stehen jetzt vor anderen Herausforderungen als vor Jahren. In unserer Jugend hat es noch keine digitalen Medien gegeben, das eröffnet Möglichkeiten, ist aber auch eine Beeinflussung, die Schwierigkeiten macht. Dann war Corona auch etwas, das viele Kinder und Jugendliche belastet hat. Die allgemeine Zeit ist anders als sie war. Aber es hat immer schon Gewalt zwischen Kindern und Jugendlichen gegeben und ich könnte nicht sagen, dass es jetzt mehr wäre.
Sind Mädchen gewaltbereiter als früher?
Es haben sich Strukturen verändert. Die patriarchalischen Strukturen sind heute weniger stark und starr. Dass Mädchen auch gewalttätig sind, stand ganz lange nicht im Fokus. Das war bei ganz vielen Menschen nie am Schirm und deshalb schockiert es umso mehr.
Warum schockieren gewalttätige Mädchen die Gesellschaft so?
Wenn wir das Opfer-Täter-Bild betrachten: Was ist ein Opfer? Opfer ist weiblich, Opfer ist arm, Opfer ist schwach. Wenn man in dieser alten Struktur denkt: Wie soll ein Mädchen sein? Es soll lieb sein, brav sein, zuvorkommend sein, freundlich sein – und dann macht es so was.
„Gewalttätige handeln nicht aus einer Lust, sondern einer Not heraus.“
Ist das eine neue Entwicklung?
Mir fällt auf: Es wird mehr berichtet. Das Thema Gewalt von Mädchen hat es aber immer wieder
gegeben. Ich bin seit zehn Jahren im Kinderschutzzentrum und hatte damals schon Mädchen, die mit dem Gesetz in Konflikt gekommen und gewalttätig waren.
Nimmt das zu?
Ich kann mir vorstellen, dass die Tendenz schon so ist, weil sich eben Rollenbilder ändern und es dadurch erst möglich wird. Früher hat es immer geheißen, Mobbing ist eine Mädchensache oder psychische Gewalt wie der „Zickenkrieg“. Psychische Gewalt ist aber nicht weniger schlimm als physische für die Betroffenen.
Sind Mädchengangs etwas Neues?
Die gesellschaftlichen Strukturen verändern sich und Verbindungen, die ins Gewalttätige oder Kriminelle gehen, entstehen heute eher als vor dreißig Jahren.
Gibt es Kinder, die böse sind?
Die gibt’s im Film, im Tatort kommen die manchmal vor ( lacht). Nein. Es ist ja immer sehr individuell. Jeder Mensch hat seine eigene Geschichte und sehr oft haben Kindern, die mobben, auch selber Gewalterfahrungen gemacht. Sie sind in Situationen gekommen, wo sie hilflos etwas ausgeliefert waren oder noch sind, und sie wandeln durch Mobbing ihre Hilflosigkeit in Aktion um. Ich glaube, eigentlich ist es ein ungünstiger Versuch, diese Hilflosigkeit loszuwerden.
Wird die Hemmschwelle, körperlich brutal zu werden, immer niedriger? Glaube ich nicht. Auch Kinder und Jugendliche, die gewalttätig agieren, wissen genau, dass man andere nicht gewalttätig behandeln darf. Ich glaube nicht, dass die Moral vor die Hunde geht, sondern es sind meiner Meinung nach Nöte, die dahinterstehen.
Was mache ich, wenn mein Kind Opfer von Mobbing oder Gewalt ist?
Das muss man als System anschauen. Bei Mobbing gibt es nicht immer nur Opfer und Täter, sondern es ist eine Dynamik, die in einer Gruppe passiert. Da gibt es auch viele Anfeuernde, Zuschauer, UnterstützerInnen für die Opferseite oder die Täterseite – da haben viele Kinder eine Funktion. Es ist wichtig, dass auch die Schule Position bezieht, die Eltern mit der Schule Kontakt aufnehmen. Kinder können in einer verfestigten Mobbingsituation gar nichts tun. Da sind Erwachsene gefragt.
Gibt es einen Opfertyp?
Opfertyp würde ich nicht sagen, aber Kinder, die weniger Selbstwert vermittelt bekommen haben, sind eher betroffen. Kinder, die ängstlich oder prinzipiell verunsichert sind, die vielleicht versuchen, Anschluss zu finden, was jedes Kind will. In der Schule ist das Wichtigste, in einem sozialen Gefüge zu bestehen.
Die Mädchen aus dem deutschen Prügelvideo entschuldigten sich bereits eine Woche später. Ist das ernst zu nehmen?
Es geht darum, Verantwortung zu übernehmen. Das ist ein Prozess, der länger dauert. Schuld ist etwas, das man leicht wegschiebt. Zu dem Thema Schuld muss man erst hinkommen. Mit Schuldgefühlen haben wir ganz viel zu tun. Aber zwischen einem Schuldgefühl und einer Schuld ist ein großer Unterschied.
Welcher?
Schuldgefühle kann ich haben, ohne dass ich an etwas schuld bin. Als Mutter kann ich Schuldgefühle haben, wenn ich denke, ich müsste für mein Kind mehr Zeit haben. Aber Schuld ist wirklich etwas anderes.
Wie definieren Sie Schuld?
Schuld als Wort würden wir in Therapie nicht verwenden. Es ist mehr Verantwortungsübernahme. Man muss versuchen, die Dynamik zu verstehen. Warum ist es denn genauso und wer ist denn wofür verantwortlich?
Abschließend: Müssen wir Angst vor unseren Kindern haben?
Nein, wir müssen uns für sie und ihre Nöte interessieren!